Detmold. (agf) Denken Bäcker an Mehl, orientieren sie sich weit überwiegend an der Mehltype. Für Laien: Die Mehltype ist das Maß für den Mineralstoffgehalt des Mehls. So ist etwa der Unterschied zwischen dem Brötchenmehl Type 550 zum Brotmehl der Type 1050 mehr als augenfällig. Der Unterschied zwischen einem Brötchenmehl Type 630 und einem Keksmehl Type 630 ist dagegen nicht sofort erkennbar.
Das ist die Stunde der Rohstoffannahme in der Bäckerei, die mit analytischen und rheologischen Graphen die Eigenschaften der im Mehl enthaltenen Glutenanteile kontrolliert. Reißt der Laborteig kurz, liegt das Keksmehl nahe. Lässt er sich hauchdünn ausziehen, liegt ein Brötchenmehl nahe – unabhängig von der Mehltype. Amylograph, Extensograph, Farinograph, Glutograph: Die Riege der labortechnischen Geräte, die hohen ISO-Standards genügen müssen und regelmäßig kalibriert werden müssen, ist beeindruckend.
Erstaunlich: An diesen Verfahren zur Qualitäts- und Quantitätsbestimmung hat sich seit Jahrzehnten nicht viel verändert. Der Wunsch nach Modernisierung und Vereinfachung wäre nachvollziehbar. Doch diesen Zusammenhang stellte Dr.-Ing. Julien Huen während der 73. Bäckerei-Technologie-Tagung in Detmold nicht her. Der studierte Lebensmittelwissenschafter und -technologe referierte zum «Einfluss der molekularen Glutenzusammensetzung auf die Anwendungseigenschaften von Weizenmehl» – und beschrieb damit eine Methode, die Mehlproben abseits der gängigen Labormethoden bestimmt.
Bezogen auf das eingangs erwähnte Beispiel, nach dem ein Brötchenmehl kein Keksmehl ist und umgekehrt, ist der Blick des Lebensmittelwissenschaftlers auf die Bestandteile ungleich detaillierter: Julien Huen: «Gluten als nicht-wasserlösliche Proteinfraktion aus dem Weizenmehl hat eine besonders komplexe molekulare Zusammensetzung, die sowohl von genetischen Faktoren als auch von den Anbau- und Lagerbedingungen abhängt. Neben dem Mengenverhältnis zwischen Gliadinen und Gluteninen unterscheiden sich die Mehle auch durch die Anteile an einzelnen Gliadin- und Glutenin-Unterfraktionen, dem Polymerisationsgrad der Glutenine sowie den HMW-Allelkombinationen.»
Übersetzt auf die Praxis heißt das: Das Spektrum der Anwendungen von Weizenmehl in der Bäckerei ist sehr breit, und jede Anwendung respektive jeder Prozess stellt andere Anforderungen an die funktionellen Eigenschaften des Glutens. Huen: «Es liegt nahe anzunehmen, dass eine verschiedene molekulare Zusammensetzung des Glutens zu unterschiedlichen funktionellen Eigenschaften führen. Konkrete Erkenntnisse hierüber, besonders mit Bezug auf übliche industrielle Prozesse, fehlten jedoch bisher.»
Im FEI-Projekt AiF 20283 N widmeten sich das Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München (LSB) und das ttz Bremerhaven dieser Thematik. Der Fokus lag auf den Produkten Weizenbrötchen und Toastbrot sowie auf dem Vergleich der Prozessvarianten (1) Kneten per Spiralkneter gegenüber Teigextruder, (2) Formen und Portionieren per Auswalzen und Ausschneiden versus Auspressen und Rundwirken sowie (3) direkte Fermentation gegenüber Gärunterbrechung.
Die erste Herausforderung bestand laut Huen darin, Mehlproben zu beschaffen, die sich in ihrer Glutenzusammensetzung unterschieden, in anderen Eigenschaften wie Glutengehalt, Fallzahl und Anteil an geschädigter Stärke jedoch möglichst ähnelten. Dafür wurden von Weizenzüchtern, Getreidehandelsunternehmen und Mühlen 70 sortenreine Weizenkörnerproben beschafft, am ttz Bremerhaven vermahlen und am Leibniz LSB analysiert. Die 30 Proben, welche die im Projekt definierten Anforderungen am besten erfüllten, wurden bei den Anwendungsversuchen eingesetzt.
Parallel zur Probenbeschaffung wurden am ttz Bremerhaven Testbedingungen für Anwendungsversuche definiert. Für die Herstellung von Toastbrot wählten die Akteure das 4-Piece-Prinzip und stellten die Verarbeitungsbedingungen aus einer Industrie-Prozessvorschrift im Technikumsmaßstab nach. Für die Herstellung von Brötchen aus direkter Führung und Gärunterbrechung übernahmen sie übliche Prozessbedingungen mittelständischer Betriebe. Parallel dazu erfolgte eine rheologische Bestimmung der Teigeigenschaften an Rheometer und Extensograph. Die Festlegung der Testbedingungen erfolgte in enger Abstimmung mit einem Gremium, an dem sich Akteure aus der gesamten Wertschöpfungskette beteiligten.
Trotz ähnlichem Glutengehalt wiesen die untersuchten Mehle sehr unterschiedliche Eigenschaften in der Anwendung auf, sowohl in Bezug auf die Teigrheologie als auch auf die Eigenschaften der Endprodukte. Diese Unterschiede konnten mit der molekularen Glutenzusammensetzung in Relation gebracht werden. Dabei wurde besonders die Bedeutung des Polymerisationsgrads der Glutenine für die Eigenschaften deutlich (Anm.d.Red.: Polymerisation als Sammelbegriff für Synthesereaktionen vorausgesetzt, die Monomere in Polymere überführen. Der Absolutwert eines Polymerisationsgrads ist abhängig vom Prozess).
Kurzum: Bis zum einfachen «Lackmustest» wird es noch eine Weile dauern. Julien Huen ist Fachmann für Analytik zur Prozessoptimierung. Die von ihm skizzierte Methode eignet sich «eines Tages» vermutlich nicht nur, um die Rohstoffannahme in der Bäckerei abzusichern. Sie könnte auch zur Strukturvereinfachung in den Mühlen beitragen. Nicht zuletzt könnten sich Teigmacher irgendwann über detaillierte Laufzettel freuen, anhand derer sich jeder nur denkbare Parameter exakt auf den Rohstoff einstellen ließe.
Julien Huen studierte Lebensmittelwissenschaften und -technologie an der Universität Dijon (FR) und arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart. 2006 wechselte er zum Unternehmen CSM. Hier betrieb er im Werk Delmenhorst sowie im Innovation Center Merksem Produkt- und Prozessentwicklung im Bereich Margarinen und Trennmittel. Seit 2012 ist er am Technologie-Transfer- Zentrum ttz Bremerhaven tätig, wo er das Kompetenzfeld Analytik zur Prozessoptimierung leitet. Begleitend zu seiner Tätigkeit am ttz promovierte Huen 2018 an der Universität Bonn zum Doktor der Ingenieurwissenschaften (TitelFoto: pixabay.com – TextFoto: AGF).