Samstag, 20. April 2024
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Bundestag: setzt Bürgerrat «Ernährung im Wandel» ein

Berlin. (bund) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben die Einsetzung eines Bürgerrats zum Schwerpunkt «Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben» beschlossen. Einem gemeinsamen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke (20.6709 | 138 KB) stimmten in namentlicher Abstimmung 402 Abgeordnete zu. 251 Parlamentarier votierten gegen die Vorlage, 12 enthielten sich. Keine Mehrheit fand hingegen ein Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel «Mehr Demokratie wagen – Echte Bürgerbeteiligung durch bundesweite Volksentscheide statt deliberative Bürgerräte» (20.6708 | 160 KB). Die Vorlage wurde mit 592 Nein- bei 69 Ja-Stimmen zurückgewiesen.

Gemeinsamer Antrag

Der Bürgerrat soll unter anderem Fragen zur Lebensmittelkennzeichnung und -verschwendung beraten. Das Gremium werde den Blick auf die im Alltag bereits stattfindenden Umbrüche der Ernährung richten und die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger in die politische Debatte einbringen, heißt es in dem Papier. 160 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger sollen voraussichtlich ab September Fragen zur Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Haltungsbedingungen von Nutztieren, Produktion von Produkten, transparente Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung diskutieren. Zudem stehen Fragen darüber an, welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll.

Die Teilnehmer des Bürgerrats werden per Zufallsprinzip ausgewählt, jeder der mindestens 16 Jahre alt ist und seinen Wohnsitz in Deutschland hat, sei aufgerufen. Bei der Zusammensetzung soll darauf geachtet werden, dass die Bürger je nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Gemeindegröße und Bildung fair beteiligt werden. «Zudem soll der Anteil der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung im Bürgerrat abgebildet werden», heißt es in dem Antrag. Die Teilnehmer erhalten eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzungstag in Präsenz und 50 Euro pro Sitzung in digitaler Form.

Begleitung mit neutraler Moderation

Die Beratungen des Bürgerrates sollen durch eine inhaltlich neutrale Moderation geleitet werden. Zur Vermittlung des erforderlichen Wissens und einer fachlich fundierten Begleitung werde der Bürgerrat durch Experten aus Wissenschaft und Praxis unterstützt. Der Verlauf der Beratungen werde der Öffentlichkeit in geeigneter Form zugänglich gemacht. Allerdings werden die Beratungen in Kleingruppen in nicht- öffentlicher Form verlaufen. In einzelnen Fällen kann «Abgeordneten und Vertretern der Presse Zugang zu den Sitzungen des Bürgerrates gewährt werden». Über eine Website und «über andere geeignete digitale Kanäle» werden Informationen, Dokumente, Vorträge und Stellungnahmen veröffentlicht.

Der Bürgerrat wird durch die Stabsstelle Bürgerräte der Bundestagsverwaltung unterstützt, die den mit der Durchführung beauftragten externen Dienstleister anleitet. «Bei der Konzeption der Durchführung ist darauf zu achten, dass die Teilnehmenden im Rahmen des Auftrags des Bürgerrates hinreichenden Einfluss auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung nehmen können», lautet der Antrag. Über dieses Konzept und über andere sich während der Durchführung stellende Fragen grundsätzlicher Bedeutung setze sich die Stabsstelle mit der vom Ältestenrat gebildeten Berichterstattergruppe Bürgerrat auseinander.

Bürgerrat legt Handlungsempfehlungen vor

Der Wissenschaftliche Beirat soll aus zwölf Wissenschaftlern (m/w/d) anerkannter Hochschulen und Forschungseinrichtungen bestehen, die von den Fraktionen über die Berichterstattergruppe Bürgerrat möglichst im Konsens benannt werden. Der Beirat soll den Dienstleister bei der Zusammensetzung des Experten-Pools sowie bei der Gestaltung des Prozessdesigns beraten. Außerdem ist vorgesehen, dass Vertreter/innen «der relevanten Verbände und Institutionen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft» vor Beginn der Beratungen des Bürgerrats zu einem offenen Anhörungsverfahren eingeladen werden. Gegenstand der Anhörung sollen die vom Dienstleister vorgeschlagene Operationalisierung der Fragestellung, das Prozessdesign und die Zusammensetzung des Experten-Pools sein.

Der Bürgerrat soll dem Deutschen Bundestag bis zum 29. Februar 2024 seine Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens vorlegen. Zu dem Bericht werde in erster Beratung eine Aussprache stattfinden. Es sei beabsichtigt, den Bericht dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur federführenden Beratung zu überweisen. Außerdem sollen die Ausschüsse für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, für Gesundheit, für Arbeit und Soziales, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für Inneres und Heimat, für Klimaschutz und Energie, für Kultur und Medien, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen mit beratend beteiligt werden (Bundestagsprotokoll: nki-hau – Foto: Ylanite Koppens).


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Nachtrag: Es fehlt nicht an Erkenntnis, sondern an Umsetzung

Berlin. (bll) Der Lebensmittelverband Deutschland blickt der Berufung eines Bürgerrats Ernährung mit großer Skepsis entgegen. Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff erklärt: «Das Grundgesetz sieht keine rätegestützten Entscheidungsprozesse vor. Die Ampel-Koalition unterminiert mit Rätestrukturen die Legitimation der Volksvertreter in der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Auch das Verfahren lässt nicht das Ziel eines Erkenntnisgewinns vermuten, sondern Scheinlegitimation für im parlamentarischen Prozess nicht durchsetzbare ideologische Positionen. Die Räte sollen einerseits aus 160 gezielt ausgewählten Personen, aber gleichzeitig aus vermeintlich repräsentativ «ausgelosten» Menschen bestehen. Schon dies zeigt die Willkür des Verfahrens. Uns erschließt sich weder, wie die Zahl 160 zustande kommt, noch, wie bei einer zufälligen Auslosung alle Ernährungs- und Lebensstile in ihrer tatsächlich prozentualen Ausprägung berücksichtigt werden sollen. Ebenso ist fraglich, wie ausgerechnet beim emotionalen Thema Ernährung eine «neutrale Person» diesen Bürgerrat führen soll, welche «Experten» derjenige beruft und wer überhaupt die Themen festlegt. Hier ist jedweder Manipulation Tür und Tor geöffnet. Es steht zu befürchten, dass die auch im Bereich der Ernährungsaktivisten bestehenden Netzwerke ihre Agenda auf neuem Wege durchzusetzen versuchen. Neben der Borchert-Kommission, der Zukunftskommission Landwirtschaft und der jüngst vom BMEL eingesetzten Kommission zur Entwicklung einer Ernährungsstrategie werden und wurden alle Aspekte des jetzt für einen «Ernährungsrat» gesetzten Themas bearbeitet. Es fehlt nicht an Erkenntnis, sondern an Umsetzung. Ernährung ist ein Persönlichkeitsrecht. Der Staat hat nicht in die Kochtöpfe der Bürger hineinzuregieren. Ihren eigenen Willen drücken die 83 Millionen Verbraucher jeden Tag selbst an der Supermarktkasse aus. Hier zeigt sich verlässlich «Volkes Wille» und nicht in einer Paralleldemokratie der Ernährungsräte.»

(Kommentar der Redaktion: Und wenn du nicht mehr weiterweißt, dann gründe einen Arbeitskreis …).

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