Sonntag, 1. Dezember 2024
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Gibt es «gute» oder «schlechte» Kohlenhydrate?

Bonn. (bzfe) Gibt es «gute» oder «schlechte» Kohlenhydrate? Dieser Frage ging Professorin Hannelore Daniel beim 12. Wissenschaftlichen Symposium des Verbands der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft (VGMS) Anfang November 2019 in Würzburg nach, von dem das BZfE Bundeszentrum für Ernährung wie folgt berichtet. «Natürlich hat eine solche Einteilung von Kohlenhydraten keine wissenschaftliche Grundlage, auch wenn sie in der Öffentlichkeit mit ihrer Eingängigkeit häufig Anwendung findet», sagte die Freisinger Ernährungswissenschaftlerin: «Zu unterschiedlich sind die biochemischen und physiologischen Wirkungen auf den menschlichen Organismus.»

Menschen sind keine Mäuse

Mit den Worten «Menschen sind keine Mäuse» kritisierte Daniel ungerechtfertigte Schlussfolgerungen aus Tierexperimenten, die dann in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach zu scheinbaren Widersprüchen führen. Sie illustrierte das an einem wissenschaftsgeschichtlichen Beispiel: Wie kein anderes Kohlenhydrat hat Fruktose über die letzten zwei Dekaden einen Wandel von «gut» zu «schlecht» erfahren. Noch vor Jahren wurde Fruktose wegen seiner geringen Insulinwirksamkeit Diabetikern als Ersatz von Glukose/Saccharose empfohlen. Doch mittlerweile ist Fruktose noch schlechter angesehen als Saccharose. Das beruht jedoch vor allem auf tierexperimentellen Befunden zur Umwandlung von Fruktose in der Leber zu Fettsäuren – mit der Folge, dass eine Fettleber entstehen kann. Jedoch ist die Evidenz für eine solche «Hepatotoxizität» (Schädigung der Leber) der Fruktose begrenzt und erschließt sich eben vorwiegend aus Studien an Nagern. Die Synthese von Lipiden aus Fruktose (und Glukose) in der Leber von Menschen hängt jedoch vor allem vom jeweiligen Füllungszustand der Glykogenspeicher in der Leber ab – und ist somit humanmedizinisch individuell zu betrachten.

Daniel dokumentierte den aktuellen Wissensstand zu «Zuckerrisiken» mit Meta-Analysen von Humanstudien: Bei isokalorischer Nahrungszufuhr (bedarfsgerecht in Bezug auf Kalorien) sind Zusammenhänge zwischen Zuckerkonsum und gesundheitlichen Risikofaktoren, besonders Diabetes mellitus Typ II, ausgesprochen schwach – wenngleich stets zu berücksichtigen sei, dass «Korrelation nicht Kausalität bedeute», wie Daniel betonte.

Neue Zuckeralternativen

Einhergehend mit der zunehmenden Popularität des Mikrobioms rücken auch die fermentierbaren Kohlenhydrate erneut ins Blickfeld des Interesses: Dazu zählen vor allem der Ballaststoff Inulin sowie Fruktose- respektive Galaktose-Oligosaccharide (FOS respektive GOS), wie sie natürlicherweise in der Muttermilch vorkommen. Waren es in der Vergangenheit zunächst ihre Wirkungen auf Stuhlfrequenz und -konsistenz, rücken nun Befunde in den Mittelpunkt, die einen positiven Einfluss auf die Darmbakterienbesiedlung versprechen – aber häufig leider auch nicht mehr. Fazit der Ernährungswissenschaftlerin zu diesen «guten» Kohlenhydraten: «Fermentierbare Substrate wie Inulin, FOS und GOS üben marginale Effekte auf das Mikrobiom aus und beeinflussen nur die Bifidobakterien signifikant.»

Ein Süßungsmittel, das wie Zucker schmeckt, aber kein Dickmacher ist – danach wird schon lange gesucht. Seit kurzem gibt es einen neuen Anwärter: Das Monosaccharid Allulose, chemisch auch als «Psicose» bezeichnet, mit nur 0,2 Kilokalorien pro Gramm. Allulose wird nur in geringem Umfang verstoffwechselt und zu 70 Prozent über den Urin ausgeschieden. Damit ist es aus Daniels ernährungswissenschaftlicher Sicht «ohne nennenswerten Energiegehalt bei guter Süßkraft ein interessantes Substitut für Saccharose.»

Personalisierte Ernährungsmedizin

Für einen «personalisierten Blick» auf den Menschen als Individuum plädierte Professor Christian Sina vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (Lübeck). Der Ernährungsmediziner begründete dies unter anderem mit Ergebnissen aus seinem «Citizen Science Program». Die individuellen Blutzuckerreaktionen variieren nicht nur auf der Tageszeitschiene, sondern unterscheiden sich auch deutlich danach, in welcher Form die Kohlenhydrate von den Probanden als Zuckergabe in Testmahlzeiten eingenommen werden: Die Stärke der Gewebeblutzuckerreaktion folgt dabei keineswegs ausschließlich dem klassischen Schema Glukose versus Vollkornbrot.

Vielmehr zeigt sich eine hochgradig-individuelle Variabilität mit enormen Streubreiten bei jeder der ganz unterschiedlich zubereiteten Kohlenhydratgaben – unabhängig von deren jeweiligem Glykämischen Index, zum Beispiel als Obst, Haferflockenmüsli, Kürbiskernbrötchen, Schokokeks, Cappuccino oder Traubenzucker. «Kohlenhydrate in der Nahrung sind ein signifikanter, aber ungenügender Indikator für die Blutzuckerreaktion. Ein maschineller Lern-Algorithmus sagt die persönliche Blutzucker-Antwort genauer voraus», schlussfolgerte Sina. Er favorisiert deshalb eine «personalisierte Ernährung» unter Nutzung zukunftsweisenden Datenmanagements und künstlicher Intelligenz in Diagnostik, Therapie und Prävention: «Die Etablierung von «nutri-types» wird uns eine Adaptation an individuelle Lebensmittelpräferenzen erlauben, anstatt Ernährungsgewohnheiten komplett verändern zu müssen.»