Hamburg. (soste / eb) Die Kommunikation zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen und Behörden, die diese auf Schritt und Tritt verwalten, passt schon lange nicht mehr zusammen. Die Rückständigkeit in den Ämtern hat dazu geführt, dass Unternehmen ihre eigene Verwaltung unnötig aufblähen müssen, um mit den von den Ämtern verursachten Medienbrüchen überhaupt noch fertig zu werden. Das ist Deutschland im Jahr 2020: Gelähmt durch eine antiquierte Verwaltung, die oft noch den Obrigkeitsdünkel pflegt. Ämter und Behörden sind so weit vom Dienstleistungsgedanken entfernt, wie sich das kaum beschreiben lässt. Das Andocken der eigenen Systeme an einen modernen Verwaltungsapparat liegt in weiter Ferne. Seit 20 Jahren nahezu ausschließlich auf digitalen Pfaden unterwegs, muss sich die Redaktion dieses Mediums fragen, ob sie «das noch mal erleben darf»: einen modernen Verwaltungsapparat, der, wenn er schon auf alles und jeden Steuern und Abgaben erhebt, seine Strukturen wenigstens soweit modernisiert, dass sie einigermaßen in die Gegenwart passen.
Der analoge Briefkasten, nur noch frequentiert von Anzeigenblättchen und Behördenpost – ohne Worte. Kein Wunder, dass der geschulte Rechercheur seit Jahren Ausschau hält nach belastbaren Informationen, wie es um den Fortschritt bei der Digitalisierung bestellt ist. Das Warten hat sich gelohnt: Die in Hamburg ansässige Sopra Steria SE, beratend unterwegs in Branchen wie Aerospace, Automotive, Healthcare und Government, hat in diesen Tagen eine aufschlussreiche Studie veröffentlicht unter dem Titel «Branchenkompass Public Sector 2020». Das Ergebnis ist leider nicht geeignet, Befürchtungen zu zerstreuen. Auch rechnet die Studie nicht vor, wie teuer die Rückständigkeit der Behörden die Wirtschaft zu stehen kommt. Doch immerhin fragt die Studie nach dem Entwicklungsstand und gewährt Einblick in eine tiefgreifende Ernüchterung. Oder anders formuliert: Der Branchenkompass geht der Frage nach, wie der Stillstand und die partielle Verteidigung des Status Quo endlich aufgebrochen werden können.
Die größten Bremsklötze auf dem Weg in die Digitalisierung
Die öffentliche Verwaltung kommt mit der Einführung neuer Technologien nicht voran. Der Grund: Es fehlen Spezialisten. Fast drei Viertel (72 Prozent) der Entscheidungsträger (m/w/d) bei Bund, Ländern und Kommunen berichten von nicht besetzten IT-Stellen. Die Mehrheit der Behörden plant neben Fortbildungen eine Anpassung der Zusammenarbeit mit IT-Dienstleistern. Das sind die Ergebnisse des «Branchenkompass Public Sector 2020» von Sopra Steria und dem F.A.Z.-Institut.
Digitale Vorhaben wie E-Signatur und E-Akte, Open und Mobile Government sowie Cloud Computing und Automatisierung sollen die öffentliche Verwaltung effizienter machen und Behördengänge für Bürger (m/w/d) vereinfachen. Für diesen Umbau und die Einführung neuer Technologien wie Robotic Process Automation, Künstliche Intelligenz und Blockchain fehlen jedoch geeignete Fachkräfte. Data Scientists, IT-Sicherheitsexperten und Machine-Learning-Spezialisten sind begehrt, auch in der Privatwirtschaft.
Die öffentliche Verwaltung setzt deshalb auf Anreize. Das Besoldungsstrukturen Modernisierungsgesetz, seit 2020 in Kraft, erlaubt zum Beispiel Prämien und Zulagen, um neue Digitalfachkräfte zu gewinnen und das bestehende IT-Personal halten zu können. 61 Prozent der Behörden investieren zudem seit etwa zwei Jahren verstärkt in Skill- oder Personalressourcenmanagement, ergibt der Branchenkompass Public Sector 2020. Bund, Länder und Kommunen sind vor allem gefordert, stärker um Talente und IT-Profis zu werben, damit sie im Personalmarketing mit Unternehmen mithalten können.
Anreize und ein aktives Recruiting allein werden allerdings nicht reichen, um genügend Fachpersonal für die digitale Transformation zu gewinnen. Jeder dritte Behördenmanager beklagt fehlendes Spezialwissen und Know-how-Lücken bei vorhandenen Mitarbeitenden. Hier stehen signifikante Investitionen in Fortbildungsmaßnahmen an. «Wichtig ist, dass Behörden ihren IT-Mitarbeitenden nicht nur Schulungen in neuen Technologien anbieten. Sie sollten zusätzlich in strukturelle und organisatorische Veränderungen investieren», sagt Ulf Glöckner, stellvertretender Leiter von Next Public, der Strategie- und Managementberatung für den Public Sector bei Sopra Steria.
Um innovativer zu werden, aber auch attraktiver für junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer planen 88 Prozent der befragten Behörden mehr Beteiligung der Beschäftigten an digitalen Veränderungsprozessen. Mehr als jede zweite Behörde organisiert die Arbeit künftig in crossfunktionalen Teams und führt agile Methoden ein. IT- und Fachseite sollen besser voneinander lernen, um Projekte zu beschleunigen.
Outsourcing von Fachverfahren ist grundsätzlich denkbar
Darüber hinaus überprüfen viele Behörden die Zusammenarbeit mit ihren IT-Dienstleistern. Ziel ist, Leistungen effizienter zu managen und die Dienstleister besser einzubinden. 56 Prozent der befragten Entscheider können sich vorstellen, dass Verwaltungsdienstleistungen und Fachverfahren auch von privaten IT-Unternehmen bereitgestellt werden können. Behörden könnten digitale Prozesse und Technologien aus einer Hand von außen beziehen und so einen Teil des notwendigen Digital-Know-hows einkaufen, statt es selbst aufzubauen.
Mittelfristig werden Bund, Länder und IT, genauso wie Unternehmen, allerdings nicht um einen breiten Aufbau interner digitaler Kompetenzen herumkommen. «Die Leistungsangebote der öffentlichen Verwaltung werden immer digitaler. Allein das Automatisierungspotenzial ist enorm. Deshalb ist IT-Know-how für jede Behörde eine Schlüsseldisziplin, allein schon um Technologieentwicklungen für die eigene Nutzung zu bewerten», sagt Ulf Glöckner von Sopra Steria.
Über die Studie «Branchenkompass Public Sector 2020»
Von Februar bis März 2020 befragte das Marktforschungsinstitut ForschungsWerk im Auftrag von F.A.Z.-Institut und Sopra Steria 100 Entscheider aus 100 deutschen Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen zum Status und zu den Herausforderungen der Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Die Befragten sind für Digitalisierung oder E-Government in ihrer Behörde zuständig. Die Befragung wurde in Form von Computer Assisted Telephone Interviewing (CATI) durchgeführt.
Die befragten öffentlichen Verwaltungen setzten sich zu 30 Prozent aus Bundes- und Landesbehörden und zu 70 Prozent aus Behörden von Kommunen – 23 Prozent Landkreise und 47 Prozent Städte und andere Gemeinden ab 20.000 Einwohnern – zusammen. In vertiefenden Interviews wurde Ende März 2020 mit drei Verwaltungsentscheidern über ihre Erfahrungen und Standpunkte gesprochen.
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