Istanbul / TR. (eb) Der türkische Quick-Commerce-Pionier Getir, einst mit 12 Milliarden US-Dollar (11,2 Milliarden Euro) das wertvollste Start-up unter den Instant-Lieferanten, wird sich aus allen europäischen Märkten – Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden – sowie aus den USA zurückziehen. Das bestätigte das Unternehmen am Montag auf einer Social-Media-Plattform. Getir wolle sich künftig auf den Heimatmarkt in der Türkei konzentrieren.
Wie viele US-Dollar, Euro oder was auch immer bis zu dieser Einsicht verbrannt wurden, ist kaum nachzurechnen. Allein 1,2 Milliarden US-Dollar kostete 2022 die Übernahme der deutschen «Gorillas». Für Aufmerksamkeit sorgte im November 2023 noch einmal die Übernahme des US-amerikanischen Online-Retailers FreshDirect von Ahold Delhaize USA. Auch der wird kaum zu einem Schnäppchenpreis den Besitzer gewechselt haben. Und das vor dem Hintergrund globaler Restrukturierungen, die Getir erst im August 2023 angekündigt hatte. 23’500 «Raider», Fahrer oder schlicht Mitarbeitende zählte das Unternehmen zu dieser Zeit, von denen 2’500 gehen mussten. Die Bewertung fiel mit diesen Entscheidungen sukzessive auf 8,8 Milliarden US-Dollar. Wobei Bewertungen wenig Handfestes sind und meistens viel Psychologie im Spiel ist. Entweder man glaubt dran oder nicht. Jetzt sollen die Getir-Investoren das Management jedenfalls unter Druck gesetzt haben, die Verluste zu reduzieren.
Getir war eines der am schnellsten wachsenden Liefer-Start-ups während der Covid-19-Pandemie. Die Lockdowns mit ihren Folgen kamen dem Geschäftsmodell sehr entgegen. Das ist 2024 natürlich vorbei und die Verbraucher sind froh, sich wieder unter die Leute mischen zu dürfen. Je weiter sich die Lage entspannte und sich der Umgang normalisierte, desto stärker hatte Getir zu kämpfen. Der Trugschluss, allein durch Größe den weltweit agierenden Konzern irgendwann rentabel machen zu können, lässt ganz nebenbei auch grundlegende Zweifel aufkommen an der Zukunft des «ultraschnellen Lebensmittel- und Lieferdiensts» an sich. Zudem hat die Europäische Union neue Vorschriften verabschiedet, um die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden zu verbessern und sie vor Scheinselbstständigkeit zu schützen. Nach der förmlichen Verabschiedung haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, sie umzusetzen.
In der weltweiten Diskussion gibt es natürlich immer noch Akteure, die die Unsicherheit des europäischen Quick-Commerce nicht wahrhaben wollen und das Scheitern allein den Gescheiterten anlasten. Zur Ehrlichkeit gehört mit dazu, dass die Idee zwar ganz reizend ist und bis zu einem gewissen Grad auch funktioniert, doch zumindest in Europa mit seinem Wohlstand schnell an Grenzen stößt. Den leben ja nicht nur die Leute, die den Service in Anspruch nehmen. Am Wohlstand teilnehmen will auch das namenlose Heer an «Raidern», das den Dienst bei Wind und Wetter umsetzt. Es ist also müßig, auf andere Kontinente zu blicken – mit anderen Gewohnheiten und Lebensumständen – und darauf zu beharren, dass Rapid-Delivery ein Selbstläufer sei. Man müsse es nur richtig anstellen. Das wäre, als wollte man Äpfel mit Birnen vergleichen. Weitere Konsolidierungen werden wohl folgen (Foto: getir.com).
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